In den 1980er und 1990er Jahren stand bei der Diskussion unter Eltern und Fachleuten folgende Frage im Mittelpunkt: „Sollten wir unserem Kind überhaupt sagen, dass es autistisch veranlagt ist?“ Mittlerweile wissen wir, dass es für Kinder grundlegend wichtig ist, Selbsterkenntnis zu erlangen. Sie müssen verstehen lernen, in welcher Hinsicht sie sich von anderen Menschen in ihrem Umfeld unterscheiden, wenn bei ihnen derlei Gefühle aufkommen… und was dies unter Umständen bedeuten kann. Falls dem betroffenen Kind fundiertes Wissen über seine Veranlagung fehlt, neigt es fast zwangsläufig dazu, die falschen Schlüsse zu ziehen. Dies kann dazu führen, dass sich bei ihm ein negatives Selbstbild verfestigt. Im Laufe der Jahre ist die Erkenntnis gereift, dass die Frage anders lauten soll: „Wie soll ich meinem Kind beibringen, dass es von einer Autismusspektrum-Störung (ASS) betroffen ist?“ 1990 habe ich einem meiner Schüler, der damals zehn Jahre alt war, zu erklären versucht, was es mit einer solchen Veranlagung auf sich hat. Dieser Erfahrung liegt meine Liste mit den zehn Merkpunkten über die Aufklärung autistischer Kinder zugrunde. Was macht diesen Ansatz so besonders? Er ist auf die Bedürfnisse von Kindern mit ASS abgestimmt. Die Merkpunkte bieten eine gute Übersicht, indem sie konkrete Informationen enthalten, die sich in zwei Kategorien einteilen lassen.
Wenn Sie dranbleiben, erfahren Sie mehr darüber, wann allenfalls die Zeit reif ist, mit Ihrem Kind über ASS zu sprechen und wie dies gehen könnte.
Wann ist die Zeit reif, um mit Ihrem Kind zu sprechen?
Gefühl für den richtigen Zeitpunkt. Es gibt Leute, welche Ihnen raten, dem Kind im autistischen Spektrum seinen Befund mitzuteilen, unmittelbar nachdem Sie selbst darüber in Kenntnis gesetzt wurden. Viele Eltern ziehen es jedoch vor, die Information zunächst einmal zu verdauen, bevor sie mit ihrem Kind darüber sprechen. Einige Paare tun dies, wenn ihr Kind das fünfte Altersjahr erreicht hat. Andere warten damit etwas länger, bis das Kind sieben- oder achtjährig ist. Daneben gibt es viele Eltern, die ihr Kind diesbezüglich erst im Alter von neun oder zehn Jahren aufklären. Vertrauen Sie auf Ihr Bauchgefühl.
Hören Sie zu. Falls Sie Ihrem Kind noch nichts gesagt haben, ist es spätestens dann an der Zeit, wenn es irgendetwas sagt oder tut, was es erkennbar von Gleichaltrigen unterscheidet oder es dies so empfindet. Es versteht sich von selbst, dass Ihr Kind nicht direkt nach einer konkreten Diagnose fragt. An einem Fallbeispiel lässt sich illustrieren, wie dies vor sich gehen kann: Nach der Schule kommt ein siebenjähriges Mädchen nach Hause und sagt seiner Mutter: „Kauf mir ein neues Gehirn!“ Wenn ein Kind so etwas offen sagt, sollte Ihnen bewusst sein, dass es die Sache sehr wahrscheinlich schon längere Zeit auf dem Herzen hat. Einige Kinder brauchen eines oder mehrere Jahre, bis sie den Sachverhalt erfasst haben und sich die gestellte Diagnose auch wirklich merken und diese schliesslich akzeptieren können. Bei anderen Kindern geht dies schneller. Sie verstehen sofort, worum es geht und sind allenfalls sogar erleichtert, wenn sie erfahren, was mit ihnen los ist!
Vorzugsweise vor der Pubertät. Einige Eltern können nicht feststellen, ob ihren Kindern selbst bewusst ist, dass sich deren Verhalten von demjenigen der Altersgenossen unterscheidet. In der Regel ist es sinnvoll, das betroffene Kind noch vor der Pubertät auf seine Diagnose anzusprechen, selbst wenn dieses diesbezüglich keine Fragen stellt oder anderweitig Interesse durchblicken lässt. Falls Sie sich dafür entscheiden, Ihrem Kind den Befund zu offenbaren, bis es „etwas grösser ist“, kann dies unter Umständen allen Beteiligten einige Probleme bereiten. Wenn Ihr Kind in diese Lebensphase eintritt, muss es auch sonst mit allerlei Herausforderungen fertigwerden, von denen Sie als Eltern ebenfalls betroffen sind. Die meisten Jugendlichen lassen sich von ihren Eltern nichts sagen, das unangenehm oder schwer zu ertragen ist, vor allem, wenn es eine Andersartigkeit betrifft. Sofern Sie erst in jenem Augenblick von der Diagnose Ihres Kindes erfahren, bleibt Ihnen freilich keine andere Wahl. Gegebenenfalls sollten Sie mit dieser Nachricht nicht mehr lange warten. Auf derlei Informationen ist Ihr Kind angewiesen, wenn es seine Alltagserfahrungen richtig einordnen soll.
Wie sag‘ ich es meinem Kind?
Vertrautheit. Vertrautheit mit der Materie macht die Sache für alle Beteiligten einfacher. Lassen Sie zu, dass Ihr Kind den Ausdruck Autismusspektrum-Störung (ASS) oder Asperger-Syndrom bereits in einer früheren Lebensphase zu sehen oder hören bekommt. Ihr Kind darf es ohne weiteres hören, wenn innerhalb der Familie dieses Wort im alltäglichen Gebrauch mit ihm in Zusammenhang gebracht wird. Wenn Sie in Anwesenheit des Kindes über die Sache reden, ist es nicht zwingend erforderlich, den Begriff zu erläutern – es genügt, diesen auf natürliche Weise zu verwenden. Es schadet auch nicht, wenn im Haushalt Fachliteratur zum Thema Autismus offen herumliegt.
Erstellen Sie Tabellen. Versuchen Sie, Ihrem Kind zu vermitteln, dass jede Person bestimmte Stärken und Schwächen hat – und dass es mit seinen Begabungen und Schwierigkeiten nicht alleine dasteht. Notieren Sie die jeweiligen Namen aller Familienangehörigen (oder anderer nahestehender Personen) auf einem eigenen Blatt Papier, das Sie in zwei Spalten unterteilen. Setzen Sie bei der einen Spalte den Titel Stärken und bei der anderen Schwierigkeiten oder Schwächen. Definieren Sie bei dieser Arbeit den Begriff Stärken als Begabungen, Fähigkeiten oder Tätigkeiten, welche der betreffenden Person leicht von der Hand gehen, und die sie gerne ausübt. Den Stärken stehen Schwierigkeiten oder Schwächen gegenüber. Unter diese Kategorien fallen Dinge, mit denen sich die betreffende Person eher schwertut oder für welche sie etwas länger braucht. Es können auch Tätigkeiten sein, die von der Person als lästig oder uninteressant empfunden werden. Sobald Sie die genannten Angehörigen fertig „katalogisiert“ haben, ist Ihr Kind an der Reihe. Schreiben Sie seinen Namen auf ein anderes Blatt.
Gehen Sie im Zusammenhang mit Ihrem Kind genau gleich vor. Tragen Sie auf der „starken“ Seite ein, was in seinem Fall zutrifft. Dies kann beispielsweise ein gutes Gedächtnis sein oder die Fähigkeit, auch schwierige Wörter rasch und fehlerfrei zu buchstabieren oder zu schreiben. Wiederholen Sie das Vorgehen auf der „schwachen“ Seite. (Dort kann beispielsweise etwas stehen wie unleserliche Schrift, Kontaktschwierigkeiten oder was sonst allenfalls noch zutrifft.)
Fügen Sie in der Spalte „Stärken“ das Asperger-Syndrom (AS) ein. Verwenden Sie den Ausdruck, der Ihnen im Zusammenhang mit Ihrem Kind am treffendsten erscheint oder einen, der Ihnen vertraut ist – es muss nicht AS sein; allenfalls könnte es Autismus sein, oder aber High Functioning Autism oder ASS. Wenn Sie (AS) (oder ein entsprechendes Äquivalent verwenden), erklären Sie Ihrem Kind, weshalb Sie gerade seine Veranlagung als solche unter „Stärken“ aufführen. Versuchen Sie, ihm zu vermitteln, was es damit auf sich hat, dass Autismus als Veranlagung unter „Stärken“ figurieren soll. Tragen Sie anschliessend denselben Diagnosebegriff auch unter „Schwächen“/“Schwierigkeiten“ ein. Auch an dieser Stelle sollten Sie Ihrem Kind erklären, welche seiner Schwächen auf eine ASS zurückzuführen ist. Legen Sie ihm dar, auf welche Lebensbereiche sich seine Veranlagung sonst noch nachteilig auswirken könnte. Hierbei können Sie einen Bezug zur Auflistung der Schwächen der anderen Familienangehörigen herstellen. Auch diese stehen in ihrem Leben vor Herausforderungen und Problemen. Bauen Sie Ihr Kind auf, indem Sie ihm vermitteln, dass es mit seinen Schwächen nicht alleine dasteht; jedem sind spezifische Stärken, aber auch Schwächen eigen.
In bester Gesellschaft mit Berühmtheiten. Sie könnten allenfalls eine Liste mit historischen Persönlichkeiten erstellen, von denen angenommen wird, dass sie autistische Charaktereigenschaften besassen. Tragen Sie deren Eigenschaften (Stärken und Schwächen) ebenfalls in einer Tabelle ein. Von Einstein ist beispielsweise bekannt, dass es ihm schwerfiel, Freunde zu finden und dass seine Interessen ziemlich eng begrenzt waren. Es ist jedoch wichtig, gegenüber Ihrem Kind klarzustellen, dass die allermeisten autistisch veranlagten Menschen weder Ruhm erlangen noch über herausragende Begabungen verfügen. Falls Sie mehr zu diesem Thema erfahren möchten, seien Ihnen folgende Bücher empfohlen: Asperger’s and Self-Esteem: Insight and Hope Through Famous Role Models von Norm Ledgin (Future Horizons, 2005) und Different Like Me: My Book of Autism Heroes von Jennifer Elder (Jessica Kingsley, 2006). Im Internet finden sich viele berühmte Persönlichkeiten, die vermutlich (oder nachweislich) autistisch veranlagt sind.
Ziehen Sie Menschen Ihres Vertrauens bei. Es gibt Eltern, denen es lieber ist, dass ein enger Freund, ein anderes Familienmitglied oder ein Therapeut dem betroffenen Kind dessen Diagnose mitteilt und erläutert. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn es sich bei der betreffenden Person um einen Jugendlichen handelt.
Schriftlicher Austausch. Setzen Sie sich mit Ihrem Kind an den Computer, und tauschen Sie sich mit ihm schriftlich aus, indem jeder abwechseln etwas zum Dialog beiträgt. Dieser kann erfolgen, ohne dass Sie beiden sprechen. Sie können jedoch auch miteinander reden, während Sie schriftlich kommunizieren. Bevor Sie sich mit Ihrem Kind an den Computer setzen, sollten Sie es fragen: „Möchtest du, dass wir schweigen, während wir einander schreiben? Oder wärst du einverstanden, wenn wir beim Schreiben nebenher auch noch miteinander reden?“ Denken Sie daran, dass schriftlich vermittelte Informationen von Menschen mit einer ASS in der Regel einfacher aufgenommen werden als mündliche. Ein weiterer Vorteil eines schriftlich geführten Dialogs besteht darin, dass das betroffene Kind den Gesprächsinhalt schwarz auf weiss zur Hand hat und zu gegebener Zeit das Gesagte in aller Ruhe Revue passieren lassen kann. Machen Sie sich allenfalls die Social Stories ™ als Vorlage zunutze, um selbst eine jeweils passende Lerngeschichte zu verfassen. So können Sie lernen, wie sich einem Kind oder Erwachsenen im autistischen Spektrum Informationen sinnvoll vermitteln lassen.
Lebenslanger Prozess. Selbsterkenntnis zu erlangen, ist ein Prozess, den jeder Mensch sein Leben lang durchläuft. Versuchen Sie nicht, Ihrem Kind alles auf einmal zu erklären, was Sie über ASS wissen. Achten Sie dabei auf den richtigen Tonfall. Bleiben Sie ruhig und sachlich im Ton, und geben Sie Notizen zum Thema gegenüber dem Kind in beruhigender und aufbauender Form wieder. Versuchen Sie, Ihre mündlichen und schriftlichen Erläuterungen einfach und klar verständlich zu halten. Stehen Sie dazu, wenn Sie zu bestimmten Fragen keine Antwort wissen. Suchen Sie gemeinsam mit Ihrem Kind nach den entsprechenden Informationen. Führen Sie das Gespräch weiter, wenn das Kind heranwächst und die Zeit dafür reif ist. An dieser Stelle möchte ich Sie auf meine folgenden Bücher hinweisen: Asperger…Was bedeutet das für mich? und Kommunikation…Was bedeutet das für mich?
Lernen, für sich selbst einzustehen. Wenn es gilt, für sich selbst einzustehen, bildet das entsprechende Wissen über die eigene Veranlagung eine wichtige Grundlage für Ihr Kind. Es muss seine Stärken und Schwächen kennen und sich zu helfen wissen, wenn es gross wird. Bringen Sie ihm bei, wann und wie es Hilfe holen kann, und an wen es sich wenden soll, um fachspezifische Unterstützung zu erhalten. Ferner ist es auch notwendig, nahestehende Personen aufzuklären. Einigen Personen im autistischen Spektrum hat es geholfen, wenn andere darüber Bescheid wussten. Damit war auch die uneigennützige Absicht verbunden, das gesellschaftliche Klima im Allgemeinen zu verbessern. Dies erfüllte die Betroffenen mit Stolz und Genugtuung.
Das Erlangen von Selbsterkenntnis dauert ein Leben lang. Sie können Ihrem Kind den Weg dazu ebnen, indem Sie autismusgerecht vorgehen. Bestärken Sie es darin, bei dieser Reise zur Selbsterkenntnis die positiven Aspekte zu betonen.
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Name der Person
Stärken Schwächen
(Dies können Dinge sein, die leicht von (Dies können
Hand gehen und Freude bereiten) Dinge sein, die
jemandem schwer-
fallen, oder die er
als lästig
empfindet)
*etwas, wofür
sich die Person
zusätzlich
anstrengen muss
oder mehr Zeit
braucht
*Begabung und/oder Fähigkeit
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© Catherine Faherty 2012-2017